Kapitel 1: Wolf Werdigier

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Aus der Krise lernen? 
Ich glaub es selbst nicht!

Ich war aber bereits in Kapstadt durch die Nachrichten und Telefonate informiert und es war dort eine völlig abstrakte Situation für mich. Mitten im Sonnenschein bin ich plötzlich mit der hohen Wahrscheinlichkeit, dass mein Leben nun zu Ende ist, konfrontiert. Ich zähle zu den höchst gefährdeten Personen, da ich eine angeschlagene Lunge habe.

Als ich mit der letzten Linienmaschine von Kapstadt in Wien landete, war hier bereits „der Teufel los.“

Vielleicht war es die abstrakte, fast unwirkliche Lage, dass ich das als gegeben hinnahm. Ich war in der gesamten Zeit bis jetzt nie so nah dem Gefühl des Lebensendes gewesen wie damals. So ist auch zu erklären, warum ich vielleicht drastischer reagiert habe als andere.

Die Ausgewogenheit der Gewohnheit: Bunuel: El àngel exterminado

Abgesehen von absoluter Quarantäne, begann auf einmal alles was ich als Ballast empfinde, wie von selbst von mir abzufallen. Projekte, die ich zuvor unbedingt machen wollte, erschienen nun völlig sinnlos. Projekte, bei denen ich schon längst nicht mehr so recht wollte, ich aber immer weiter machte, wegen Erfolg, Reputation, oder sozialer Anerkennung, konnte ich einfach streichen. Wenn der „Spaß zu Ende ist“, dann hat plötzlich alles einen anderen Wert. Ich bin selbst verblüfft.

Aber der Reihe nach:

„Die Angst ist zu benennen. Ist sie einmal benannt und beschrieben, dann ist sie auch bewältigbar.
Die Angst zu benennen, zu beschreiben und in Bilder zu fassen ist die vornehmste Rolle der Kunst jetzt.
Dies inkludiert auch die Beschreibung all dessen, was uns jetzt im „Corona-Belagerungszustand“ durch den Kopf geht.
Alle Reflexionen weil jetzt mehr Ruhe ist, nachzudenken: Was ist wichtig?
Viele Agenden kommen jetzt zum Stillstand. Spüre ich eine Erleichterung, wenn ich daran denke?
Dann sollte ich sie beenden. Dies käme mir nie in den Sinn, aber die Erleichterung spüre ich jetzt.“


15. März

Ein Freund in Kapstatdt fragte:
“Do fundamental ideas come up?”
“No. It is only about organizing what is left in which way. If I am not here anymore. My paintings, heritage, etc.”

Liebste: wir sind alle austauschbar, die Melancholie und die Trauer muss man durchstehen
Das was bleibt sind die wunderbaren Erinnerungen. Und die sind da, in Übermenge!
Niemand kann sie uns wegnehmen, wir können sie aber auch nicht wieder geschehen lassen. Damit müssen wir uns abfinden
Es gibt viel wunderbare Menschen und wenn ich nicht mehr bin, dann suchst du andere. Du brauchst nur Geduld und musst umherstreifen. Wenn du überlebst hast du Zeit und Musse dazu!

Ich bin aber auch auf den Ballast draufgekommen, der abzuwerfen ist.

Ich hätte schon längst meine Zeit für meine Arbeit verwenden sollen, nicht für Organisation.

Jetzt fällt mir der Zettel mit meiner Notitz, Dankesbriefe zu schreiben in die Hände.
Ja, wenn das Leben zu Ende geht ist das der richtige Augenblick!

+

Wichtig wäre es sich zu überlegen, was bleibt? Gemäß meiner Interpretation von Tolstoj´s Wirken, dass die poetische Fassung unakzeptabler Zustände ein Wert an sich ist, bleibt am ehesten mein „denk-mal“ Projekt. Also müsste ich in dieser Richtung weiter arbeiten, wenn es noch dazu kommt.


18. März

Dann bin ich mit der letzten Maschine nach Wien geflogen.

Und war hier schockiert zu sehen, dass alle Straßen leer waren. Nach vehementem Einreden Reginas befolgte ich die Regeln so gut ich konnte, teilweise sogar paranoisches Händewaschen und dennoch immer fahrlässig, weil nicht wissend, wie lange sich Viren an der Oberfläche halten können.
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Dann das große Problem der nicht fassbaren Exponentialverbreitung. Es fiel mir die Geschichte von Sissa ibn Dahir ein. Die Verdoppelung der Getreidekörner mit jedem Schachbrettfeld. Und die durchschnittliche Ansteckungsgefahr ist nicht 2 sondern 3,4! Also Hut ab vor den Regierungen, die das rechtzeitig einbezogen.
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Interessant ist die Adaptierbarkeit des Bewusstseins. Aus Südafrika kommend, war ich recht leger, obwohl ich als einziger eine Maske im Flugzeug anhatte. Bei der Ankunft und am Parkplatzautomaten waren Menschen näher als ein Meter beisammen. Regina flippte aus. Wie konnte ich, der nun 12 Stunden auf Tuchfühlung mit den Mitreisenden im Flugzeug gesessen ist und südafrikanische Verhältnisse gewohnt ist auf einmal anders reagieren? Und doch binnen kürzester Zeit verhielt ich mich völlig anders. Das ist doch Mitläufertum, zwar hier positiv zu sehen, aber dennoch zeigt es wie sehr das Denken von den umgebenden Menschen bestimmt ist.

21. März

Ein erstaunlicher und doch auch trauriger Aspekt in der jetzigen Situation ist die Abwesenheit des Eros. Der wunderbare Filmtitel „Angst essen Seele auf“ scheint eine gute Erklärung dafür zu sein. Aber es ist noch mehr. Ich habe jetzt das Gefühl, dass Eros sehr viel mit Übermut zu tun hat. In einer Zeit von Angst und völliger Achtsamkeit ist Übermut verboten. Vor allem bei einer nicht direkt nachvollziehbaren Achtsamkeit.


Interessanter Weise kommen jetzt die Erinnerungen meiner frühen Jahre ins Gedächtnis, jener Jahre, in denen ich wegen der ungelebten Erotik so unglücklich war. Immerhin gab es damals völlig abstruse Liebesgeschichten, die ohne körperlichen Kontakt auskamen. Ich erinnere mich an eine extreme Geschichte, als ich mit einem Mädchen nur kurz an der Bar gesessen bin, gerade ein Gespräch begonnen hatte, was schon eine riesen Sache war und mich dann verabschiedete, weil ich nicht länger bleiben konnte. Wir tauschten noch schnell die Adressen aus, jedoch war sie aus einem anderen Ort. Dann nachher, schrieben wir uns Briefe. Diese Briefe wurden immer näher, immer intimer und ich erinnere mich, dass ich die wildesten Fantasien nicht nur selbst hatte, sondern auch wir uns diese schrieben. Es war den Briefen entsprechend, eine irrsinnige ekstatische Sexualität zwischen uns. Aber eben nur in den Briefen.


Ich erinnere mich an den Anfang der jetzigen Krise, als es begann ernst zu werden und die tödliche Gefahr des Virus und die Tatsache, dass ich zur Hochrisikogruppe zähle, weil ich oft Lungenentzündung hatte und sehr anfällig bin, ich versuchte, mit dem Leben abzuschließen. Ich wollte nicht überrascht werden. Ich wollte es selbst in der Hand haben und wenn es schon unklar ist, dann will ich mein Bewusstsein eben selber auf das Ende einstellen. Es war wie eine Trotzreaktion.
Dabei ist dies, wie wir aus den Konzentrationslagern der Nazi wissen, gerade verkehrt. Von denen, die noch gerettet werden konnten, waren nur jene dabei, die Hoffnung hatten. Also muss ich mich dafür schämen.

Dass schön Glücksmomente im Leben nicht einfach verstreichen ist für mich neu. Ich dachte immer, dass ich so konsumistisch mit unserem Glücke umgehe. 
Ich kann es nicht halten und es flutscht halt davon.
Aber das stimmt nicht. Es sind diese Glücksmomente die, die bleiben. Nicht irgendwelche Werke, oder Kunst, oder Leistungen, es sind diese Glücksmomente,die für mich Bestand haben.
Die schönsten Glücksmomente sind mit Sex und Erotik verbunden, oft in Verbindung mit Musik.

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Welche Musik?

Beethovens Waldstein Sonate

Lynn Anderson – Ibeg xour pardon, I never promised you a rose garden

Paolo Conte – Sparring Partner

Aretha Franklin – (You Make Me Feel Like) A Natural Woman

Schuberts Impromptus

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Beginnt man nicht die Menschen wieder intensiv zu lieben?

Es erinnert mich an das Bild einer Township mit den tausenden Glitzerpunkten, lauter wunderbare Menschen, aus der Ferne betrachtet, obwohl in der Nähe so viel Elend und Kriminalität ist. Ich las gestern Abend noch bis spät in die Nacht wieder Claude Levi-Strauss, Traurige Tropen:

“Wenn die Menschen seit je her nur eine einzige Aufgabe in Angriff genommen haben, nämlich eine Gesellschaft zu schaffen, in der es sich leben lässt, dann sind die Kräfte, die unsere fernen Vorfahren angespornt haben, auch in uns gegenwärtig. Nichts ist verspielt; wir können alles von vorn anfangen.“

Und dann am nächsten Morgen erhielt ich dieses Video aus Italien! Ungeheuerlich!

Coro virtuale “Va pensierio”
(“Nabucco” di G. Verdi) – International Opera Choir

Ich war, so glaube ich, noch nie so erschüttert von einem Musikstück wie heute von dem Nabucco Chor in dem Video aus Italien. Ich hörte es immer wieder an und immer wieder musste ich weinen. Jetzt am Abend suchte ich mir eine CD Aufnahme heraus und hörte mir das nochmals an, eine Aufnahme von Toscanini. Ich konnte es nicht einmal zu Ende hören. Es tut so weh. Der Gefangenenchor der Juden in Babylonischer Gefangenschaft ruft um Hilfe. Es ist als ob ein singendes Volk in den Tod geht, wie die Italiener im Video.


Arnold Schönberg komponierte  das Musikstück „Ein Überlebender aus Warschau“. In diesem Stücke lässt ein SS Mann die Juden sich abzählen, damit er weiß wieviele er zur Gaskammer abliefert. Sie beginnen zu zählen, erst langsam, dann immer schneller, bis das Zählen in den Gesang des „Schmahl Israel“ übergeht.

Vielleicht fühle ich mich den Italienern nahe, weil sie den Juden im Temperament etwas ähnlich sind und ich muss an die Geschichte des jüdischen Bürgermeisters von Venedig denken, dem die Armenier in ihrem exterritorialen Pallazzo Zenobio, Schutz und Zuflucht vor den Faschisten ermöglichten, in jenem Palazzo, in dem ich jahrelang die Sommerakademie veranstaltete, ohne dass ich dies wusste. Lieber Leser verzeih, wenn ich jetzt Kraut und Rüben durcheinander bringe,denn die jetzige Pandemie hat nichts mit Faschismus zu tun. Aber mein Unbewusstes tut halt anders. Und so gesehen ist all das gesagte nur eine individuelle Momentaufnahme. Wie Heinz Conrads sagte: „Verzeih, wenn ich zu lange dich gestört, ….“