Kapitel 2: Isabel Belherdis

The white rabbit´s got time

oder: Aus dem Rückspiegel der zukünftigen Vergangenheit

Den Unterschied. Erkennt man nur in der Vergangenheit. Und selbst dort. Verschwimmt er. Zu einem Meer aus Weniger.
 
Weniger noch als das. Weniger noch als immer. Weniger noch als immerfort und niemalsmehr. Immerfort nichts und noch kein bisschen weiter. Immerfort ein Stück zurück.
 
Zwei Brennpunkte. in Sichtweite. niemals in Hörweite. Bloß die Biegungen waren markiert. Mit feinen Wörtern, die am Wegrand warteten. Bereit, sich in die Vorstellung zu wagen. Nur dort. Konnten sie ein wenig atmen.
 
Wohin wollten wir uns wagen? Wollte einer von uns wagen oder waren es bei uns beiden nur Vermutungen? Vermutungen über unser Inneres. Wissen über unser Äußeres. Oder war es wohl umgekehrt?
 
Der Vogel. Der Affe. Und beide hatten wir beides. Die Handschwingen. Den Kringelschweif. Unsere Bäume, derentwillen wir den Wald nicht wahrnahmen und das Ende des Waldes: Die Lichtung.
Unsere Fähigkeit, zu klettern, zu schwingen, von Baum zu Baum bis hin zum freien Feld. Um dann unsere Armschwingen zu entdecken.
 
 Ja, unter dem Fell, unter dem Kragenpelz, nah an der Haut, nah am Herzen: Hätten wir doch den Glanz untersucht: Das Glänzen in unseren Augen: Ob wir uns darin erkannten? In diesen feuchten Kugeln, die im Inneren wie im Äußeren zu gleichen Teilen existieren.
Auf der Hinterseite vielleicht: Hätten wir uns gemeinsam gesehen. Verkehrt herum, mit den Füssen im Himmel.
 
Aber wenn man fliegt, wenn man in der Luft ist, wenn man im All, im Überall, im Nichts ist: Macht es dann noch Sinn, ein Oben und ein Unten, ein Rechts und ein Links? Ist dann nicht an jedem Punkt Anker und an keinem?
 
 Ist nicht die Idee des Ich, die Idee des Du, die Idee des Uns, des Wir, ist sie nicht gestrichen, für immer, in den Farben des Universums? Gestrichen? Ist unsere Idee gestrichen? Verstrichen? Verstriffen, vergessen, verkommen, verloren?
 
Mussten wir sie verlieren, um uns an uns zu erinnern ohne uns? Mussten wir „wir“ verlieren um uns an „uns“ zu erinnern?
 
Ohne dass wir je ahnen durften, hätten wir da je wissen können? Und wenn ja, wäre es uns aufgefallen? Eingefallen? Hätten wir die Veränderung dann bemerkt? Hätten wir die neuen Wege wahrgenommen? Oder wären wir in der Erde vergraben – dreifachblinde Maulwürfe – oder in den Ästen verheddert- siebenfüßige Koalabären – einfach darüber hinweggepurzelt, über die Weltenöffnung, in einem Jahr, den Weltenspalt in eine echte Welt, rechte Welt, in die Welt, die wir uns vorgestellt: hätten wir sie überpurzelt, blind-wütig durch die Narrenkappe, die Parzivale, die Nichtfragenden, die Nichtantwortenden, die Alles-Ausdrücken-Wollenden-Durch-Nicht-Den-Mund-Öffnenden.
 
Doch nun öffne ich ihn. Nun lasse ich das Universum durch mich durchziehen, mich ausfüllen, jeden Winkel in mir erkunden, damit es auch aus mir spricht, damit es mir all das eingibt, was in mir verschlossen liegt, meine Dornen zu Federn formt, die mich kitzeln, so lange, bis ich den Mund öffne und lache, über das ganze Gesicht, über mich, über Dich, über uns, über die ganze Welt.



Dieses Gedicht von 2013 fand ich kürzlich beim Durchforsten meines Text-Archivs wieder und bemerke nun, dass die Zeilen zur gegenwärtigen Zeit eine völlig neue Schwingung bekommen.
Als ich das Gedicht verfasste, konnte man den Menschen, von denen man angezogen war, physisch auch nahe kommen. In dieser Welt konnten lediglich die Komplexität der eigenen Gedankengänge und die verwinkelt angelegten Annäherungspfade eine tatsächliche Berührung unmöglich machten und im seltensten Fall waren, wie gerade eben, die realen Bedingungen dafür verantwortlich.

Das proxemische Paradoxon und die Handschuhe des Hasen

Wie Alice im Wunderland, die sich – als der weiße Hase, während er der Zeit hinterherhastet, seine Handschuhe verliert  – fragt, „dear, dear! how queer everything is today?“ wundern auch wir uns über den Eintritt in eine veränderte Welt. Hat sich doch auch fast über Nacht unser Leben verändert und die sozialen Verhaltensweisen, die wir gewohnt waren, sind nicht mehr gültig, sind scheinbar völlig auf den Kopf gestellt. Doch haben wir sie vielleicht vorher schon selbst durcheinandergebracht?

Ich wage zu fragen, denn in der Proxemik, der Wissenschaft vom Raumverhalten der Individuen, werden seit jeher generelle Verhaltensweisen hinsichtlich menschlicher Annäherungen unterschieden, die, beeinflusst von kulturellen Normen und individuellen Eigenheiten, doch mit ungefähren Werten bemessen werden können: Die intime Zone reicht von unseren Körpergrenzen bis 60 cm um uns herum, die persönliche Distanz umfasst die Zone von 60 cm bis 150 cm und die soziale Zone beginnt erst bei 150 cm und endet 360 cm von unserem Körper entfernt.

Ist es nicht interessant, wie viele Menschen, die uns eigentlich fremd waren, die wir vielleicht das erste Mal sahen, mit denen wir womöglich nicht einmal vertrauensvoll zu kommunizieren beabsichtigten, wir „vor Corona“ ganz selbstverständlich in unsere intimste Zone einließen, wenn auch nur für einen kurzen Moment? Wie wird sich unser Raumverhalten mit/ nach/ trotz Corona nun verändern? Wie werden wir uns in Zukunft zueinander verhalten?
Und könnte womöglich die Entfernung, die wir nun mindestens einzuhalten haben, aus einer gewissen Perspektive sogar „normaler“ – gemessen an unserem intuitiven Körpergefühl –  sein als vorher und vielleicht sogar eher unserem Bauchgefühl entsprechen? Könnten unsere Körper in Zukunft vielleicht anders kalibriert sein, vielleicht verfeinert werden, nuanciertere Annäherungen erkennen können? Und die schlussendliche Überschreitung einer vorher nicht so bewussten Grenze womöglich noch intensiver, tiefer und vielleicht sogar magischer erlebt werden?

Weiter in der Zeit nach vorne: 2014 entstand eine Autoperformance, in der im Zuge der Serendipity No 2 Werken noch einige andere Bilder entstanden, die ich ebenfalls jetzt erst ans Licht hole, weil sie mir derzeit in vielerlei Hinsicht nun auch eine besondere Aussagekraft zu bekommen scheinen.

Serendipity No 2/Le main, 2014
Serendipity No 2/Continues, 2014

Mit den aus der “New York Times“  ausgeschnittenen Zeitungsschnipseln habe ich damals Botschaften für mich selbst gebildet. Wörter wie „continues“ , neu geschaffene Bedeutungszusammenhänge wie „Trust is…irresistable“ oder Teile eines Satzes, die etwas in mir zum Klingen brachten: „Embraces the Art World

Nun entschlüsselt sich für mich eine Nachricht aus der Vergangenheit in die Gegenwart und wieder zurück. Der Abstand geht weiter, die Kunst umarmt mich und das Vertrauen in den richtigen Lauf der Welt ist so unwiderstehlich wie wirksam

Serendipity No 2/Trust is irresistible, 2014

„Natürlich kannst du das nicht wissen!“ sagte der Hutmacher, indem er den Kopf verächtlich in die Höhe warf. „Du hast wahrscheinlich nie mit der Zeit gesprochen.“


(Lewis Carroll, Alice im Wunderland)

Während ich an einer Autoperformance arbeite, scheint die Zeit für mich stillzustehen. Ich bemerke, dass sich meine Bewegungen verlangsamen, dass jeder Quadratzentimeter meiner Haut sensibilisiert ist. Ich fühle mich, als ob ich den Weltenvorhang etwas gelüftet hätte und einen Moment lang, der nur im Nachhall spürbar ist, die Zusammenhänge unseres Seins, ohne dass ich sie benennen könnte, erkennen könnte. Vielleicht sind die Werke der Abdruck einer Ahnung, die ich selbst erst viel später entschlüsseln kann, bevor sie sich erneut dechiffrieren.

Serendipity No 2/Art world Embraces, 2014

„Hast du das Räthsel schon gerathen?“ wandte sich der Hutmacher an Alice.
„Nein, ich gebe es auf,“ antwortete Alice; „was ist die Antwort?“
„Davon habe ich nicht die leiseste Ahnung,“ sagte der Hutmacher.
„Ich auch nicht,“ sagte der Faselhase.


(Lewis Carroll, Alice im Wunderland)

EPILOG:

Dear, dear! how queer everything is today?
Wie seltsam… jahrelang in einer Realität, die Berührung physisch so einfach macht, arbeite ich an meinen Autoperformances, in denen ich Zuschauerin und Schauspielerin zugleich bin. Und nun in einer Welt, in der sich die hodologische Distanz zu einem anderen Menschen zumindest temporär ins Unendliche vergrößert hat, fasziniert mich die Aufnahme eines anderen Individuums in meinen Werken und die Einarbeitung von sich annähernden Paaren, auch wenn sie gut versteckt sind…



The island, 2020
Spellbound, 2020

And never forget: You only live twice!