The white rabbit´s got time
oder: Aus dem Rückspiegel der zukünftigen Vergangenheit
Den Unterschied. Erkennt man nur in der Vergangenheit. Und selbst dort. Verschwimmt er. Zu einem Meer aus Weniger.
Weniger noch als das. Weniger noch als immer. Weniger noch als immerfort
und niemalsmehr. Immerfort nichts und noch kein bisschen weiter.
Immerfort ein Stück zurück.
Zwei Brennpunkte. in Sichtweite. niemals in Hörweite. Bloß die Biegungen
waren markiert. Mit feinen Wörtern, die am Wegrand warteten. Bereit,
sich in die Vorstellung zu wagen. Nur dort. Konnten sie ein wenig atmen.
Wohin wollten wir uns wagen? Wollte einer von uns wagen oder waren es
bei uns beiden nur Vermutungen? Vermutungen über unser Inneres. Wissen
über unser Äußeres. Oder war es wohl umgekehrt?
Der Vogel. Der Affe. Und beide hatten wir beides. Die Handschwingen. Den
Kringelschweif. Unsere Bäume, derentwillen wir den Wald nicht
wahrnahmen und das Ende des Waldes: Die Lichtung.
Unsere Fähigkeit, zu klettern, zu schwingen, von Baum zu Baum bis hin zum freien Feld. Um dann unsere Armschwingen zu entdecken.
Ja, unter dem Fell, unter dem Kragenpelz, nah an der Haut, nah am
Herzen: Hätten wir doch den Glanz untersucht: Das Glänzen in unseren
Augen: Ob wir uns darin erkannten? In diesen feuchten Kugeln, die im
Inneren wie im Äußeren zu gleichen Teilen existieren.
Auf der Hinterseite vielleicht: Hätten wir uns gemeinsam gesehen. Verkehrt herum, mit den Füssen im Himmel.
Aber wenn man fliegt, wenn man in der Luft ist, wenn man im All, im
Überall, im Nichts ist: Macht es dann noch Sinn, ein Oben und ein Unten,
ein Rechts und ein Links? Ist dann nicht an jedem Punkt Anker und an
keinem?
Ist nicht die Idee des Ich, die Idee des Du, die Idee des Uns, des Wir,
ist sie nicht gestrichen, für immer, in den Farben des Universums?
Gestrichen? Ist unsere Idee gestrichen? Verstrichen? Verstriffen,
vergessen, verkommen, verloren?
Mussten wir sie verlieren, um uns an uns zu erinnern ohne uns? Mussten wir „wir“ verlieren um uns an „uns“ zu erinnern?
Ohne dass wir je ahnen durften, hätten wir da je wissen können? Und wenn
ja, wäre es uns aufgefallen? Eingefallen? Hätten wir die Veränderung
dann bemerkt? Hätten wir die neuen Wege wahrgenommen? Oder wären wir in
der Erde vergraben – dreifachblinde Maulwürfe – oder in den Ästen
verheddert- siebenfüßige Koalabären – einfach darüber hinweggepurzelt,
über die Weltenöffnung, in einem Jahr, den Weltenspalt in eine echte
Welt, rechte Welt, in die Welt, die wir uns vorgestellt: hätten wir sie
überpurzelt, blind-wütig durch die Narrenkappe, die Parzivale, die
Nichtfragenden, die Nichtantwortenden, die
Alles-Ausdrücken-Wollenden-Durch-Nicht-Den-Mund-Öffnenden.
Doch nun öffne ich ihn. Nun lasse ich das Universum durch mich
durchziehen, mich ausfüllen, jeden Winkel in mir erkunden, damit es auch
aus mir spricht, damit es mir all das eingibt, was in mir verschlossen
liegt, meine Dornen zu Federn formt, die mich kitzeln, so lange, bis ich
den Mund öffne und lache, über das ganze Gesicht, über mich, über Dich,
über uns, über die ganze Welt.
Dieses Gedicht von 2013 fand ich kürzlich beim Durchforsten meines
Text-Archivs wieder und bemerke nun, dass die Zeilen zur gegenwärtigen
Zeit eine völlig neue Schwingung bekommen.
Als ich das Gedicht verfasste, konnte man den Menschen, von denen man
angezogen war, physisch auch nahe kommen. In dieser Welt konnten
lediglich die Komplexität der eigenen Gedankengänge und die verwinkelt
angelegten Annäherungspfade eine tatsächliche Berührung unmöglich
machten und im seltensten Fall waren, wie gerade eben, die realen
Bedingungen dafür verantwortlich.
Das proxemische Paradoxon und die Handschuhe des Hasen
Wie Alice im Wunderland, die sich – als der weiße Hase, während er der
Zeit hinterherhastet, seine Handschuhe verliert – fragt, „dear, dear! how queer everything is today?“
wundern auch wir uns über den Eintritt in eine veränderte Welt. Hat
sich doch auch fast über Nacht unser Leben verändert und die sozialen
Verhaltensweisen, die wir gewohnt waren, sind nicht mehr gültig, sind
scheinbar völlig auf den Kopf gestellt. Doch haben wir sie vielleicht
vorher schon selbst durcheinandergebracht?
Ich wage zu fragen, denn in der Proxemik, der Wissenschaft vom
Raumverhalten der Individuen, werden seit jeher generelle
Verhaltensweisen hinsichtlich menschlicher Annäherungen unterschieden,
die, beeinflusst von kulturellen Normen und individuellen Eigenheiten,
doch mit ungefähren Werten bemessen werden können: Die intime Zone
reicht von unseren Körpergrenzen bis 60 cm um uns herum, die persönliche
Distanz umfasst die Zone von 60 cm bis 150 cm und die soziale Zone
beginnt erst bei 150 cm und endet 360 cm von unserem Körper entfernt.
Ist es nicht interessant, wie viele Menschen, die uns eigentlich fremd
waren, die wir vielleicht das erste Mal sahen, mit denen wir womöglich
nicht einmal vertrauensvoll zu kommunizieren beabsichtigten, wir „vor
Corona“ ganz selbstverständlich in unsere intimste Zone einließen, wenn
auch nur für einen kurzen Moment? Wie wird sich unser Raumverhalten mit/
nach/ trotz Corona nun verändern? Wie werden wir uns in Zukunft
zueinander verhalten?
Und könnte womöglich die Entfernung, die wir nun mindestens einzuhalten
haben, aus einer gewissen Perspektive sogar „normaler“ – gemessen an
unserem intuitiven Körpergefühl – sein als vorher und vielleicht sogar
eher unserem Bauchgefühl entsprechen? Könnten unsere Körper in Zukunft
vielleicht anders kalibriert sein, vielleicht verfeinert werden,
nuanciertere Annäherungen erkennen können? Und die schlussendliche
Überschreitung einer vorher nicht so bewussten Grenze womöglich noch
intensiver, tiefer und vielleicht sogar magischer erlebt werden?
Weiter in der Zeit nach vorne: 2014 entstand eine Autoperformance, in der im Zuge der Serendipity No 2
Werken noch einige andere Bilder entstanden, die ich ebenfalls jetzt
erst ans Licht hole, weil sie mir derzeit in vielerlei Hinsicht nun auch
eine besondere Aussagekraft zu bekommen scheinen.
Mit den aus der “New York Times“ ausgeschnittenen Zeitungsschnipseln
habe ich damals Botschaften für mich selbst gebildet. Wörter wie „continues“ , neu geschaffene Bedeutungszusammenhänge wie „Trust is…irresistable“ oder Teile eines Satzes, die etwas in mir zum Klingen brachten: „Embraces the Art World“
Nun entschlüsselt sich für mich eine Nachricht aus der Vergangenheit in
die Gegenwart und wieder zurück. Der Abstand geht weiter, die Kunst
umarmt mich und das Vertrauen in den richtigen Lauf der Welt ist so
unwiderstehlich wie wirksam
„Natürlich kannst du das nicht wissen!“ sagte der Hutmacher, indem er den Kopf verächtlich in die Höhe warf. „Du hast wahrscheinlich nie mit der Zeit gesprochen.“
(Lewis Carroll, Alice im Wunderland)
Während ich an einer Autoperformance arbeite, scheint die Zeit für mich stillzustehen. Ich bemerke, dass sich meine Bewegungen verlangsamen, dass jeder Quadratzentimeter meiner Haut sensibilisiert ist. Ich fühle mich, als ob ich den Weltenvorhang etwas gelüftet hätte und einen Moment lang, der nur im Nachhall spürbar ist, die Zusammenhänge unseres Seins, ohne dass ich sie benennen könnte, erkennen könnte. Vielleicht sind die Werke der Abdruck einer Ahnung, die ich selbst erst viel später entschlüsseln kann, bevor sie sich erneut dechiffrieren.
„Hast du das Räthsel schon gerathen?“ wandte sich der Hutmacher an Alice.
„Nein, ich gebe es auf,“ antwortete Alice; „was ist die Antwort?“
„Davon habe ich nicht die leiseste Ahnung,“ sagte der Hutmacher.
„Ich auch nicht,“ sagte der Faselhase.
(Lewis Carroll, Alice im Wunderland)
EPILOG:
„Dear, dear! how queer everything is today?“
Wie seltsam… jahrelang in einer Realität, die Berührung physisch so einfach macht, arbeite ich an meinen Autoperformances, in denen ich Zuschauerin und Schauspielerin zugleich bin. Und nun in einer Welt, in der sich die hodologische Distanz zu einem anderen Menschen zumindest temporär ins Unendliche vergrößert hat, fasziniert mich die Aufnahme eines anderen Individuums in meinen Werken und die Einarbeitung von sich annähernden Paaren, auch wenn sie gut versteckt sind…
And never forget: You only live twice!